Kehrt Ratzinger mit seiner Forderung nach dem „für viele“ zur katholischen Tradition zurück?

Anlässlich eines Besuchs am 15. März 2012 hat Dr. Robert Zollitsch, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Benedikt XVI. offenbar darauf aufmerksam gemacht, dass bezüglich der Übersetzung der Worte „pro multis“ in den Hochgebeten der „neuen Messe“ nach wie vor keine Einigkeit unter den Bischöfen des deutschen Sprachraums bestehe. Bei einer anstehenden Neuausgabe des „Gotteslobs“ stelle sich daher das Problem, dass einige Teile des deutschen Sprachraums bei der Übersetzung „für alle“ bleiben wollen, auch wenn die Deutsche Bischofskonferenz sich einig wäre, „für viele“ zu schreiben, wie es von Rom gewünscht werde. Daher hat Ratzinger Zollitsch versprochen, sich bezüglich dieser Problematik in einem Brief an die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz zu wenden. Dieses Schreiben hat er dann auch den übrigen Bischöfen des deutschen Sprachraums zukommen lassen.
Dieser Brief ist nun tatsächlich am 14.04.2012 an die deutschen und deutschsprachigen Bischöfe ergangen. Wie versprochen vertritt Ratzinger darin die Auffassung, dass „für viele“ die bessere Übersetzung für „pro multis“ sei. Auf den ersten Blick könnte das verständlicherweise erneut Aufwind für die Meinung geben, Ratzinger wolle die wahre Liturgie der Kirche wieder herstellen. Es ist allerdings sehr interessant, sich den genauen Wortlaut dieses Briefes einmal anzusehen, um festzustellen, was Ratzinger wirklich sagt.
Eingangs sei hier schon gesagt, dass wir nie direkt die Gedanken eines Menschen lesen oder seine Absichten kennen können. Alles, was uns die Beurteilung des Innenlebens eines Menschen ermöglicht, sind seine Worte und Taten. Überlegungen, was Ratzinger noch alles vorhat, können nur Spekulation bleiben. So soll auch hier kein endgültiges Urteil abgegeben werden, was noch alles kommen mag. Alles was wir tun können, ist, auf das zu schauen, was ein Mensch sagt und tut.
Schauen wir uns den Brief also einmal an. Um einen möglichst authentischen Eindruck zu geben, wollen wir dabei möglichst weit den Brief selber sprechen lassen. Den gesamten Brief hier abzudrucken, wäre zwar interessant, würde aber den Rahmen sprengen. Er ist nachzulesen auf der offiziellen Website des Vatikan unter www.vatican.va. Diese Version liegt auch dem folgenden Artikel zugrunde.
Schon der erste Absatz ist sehr interessant: „Lassen Sie mich zunächst kurz ein Wort über die Entstehung des Problems sagen. In den 60er Jahren, als das Römische Missale unter der Verantwortung der Bischöfe in die deutsche Sprache zu übertragen war, bestand ein exegetischer Konsens darüber, daß das Wort 'die vielen', 'viele' in Jes 53, 11f eine hebräische Ausdrucksform sei, um die Gesamtheit, 'alle' zu benennen. Das Wort 'viele' in den Einsetzungsberichten von Matthäus und Markus sei demgemäß ein Semitismus und müsse mit 'alle' übersetzt werden. Dies bezog man auch auf den unmittelbar zu übersetzenden lateinischen Text, dessen 'pro multis' über die Evangelienberichte auf Jes 53 zurückverweise und daher mit 'für alle' zu übersetzen sei. Dieser exegetische Konsens ist inzwischen zerbröckelt; er besteht nicht mehr. In der deutschen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift steht im Abendmahlsbericht: 'Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird' (Mk. 14, 24: vgl. Mt. 26, 28). Damit wird etwas sehr Wichtiges sichtbar: Die Wiedergabe von 'pro multis' mit 'für alle' war keine reine Übersetzung, sondern eine Interpretation, die sehr wohl begründet war und bleibt, aber doch schon Auslegung und mehr als Übersetzung ist.“
Es ist schon fast komisch zu sehen, wie hier mehr oder weniger nebenbei die ganze Mär, mit der den Gläubigen bei der Einführung des NOM in der Landessprache das “für alle” weisgemacht wurde, unter den Teppich gekehrt wird. Noch bis vor wenigen Jahren hat man von Priestern der offiziellen katholischen Kirche hören können, dass “die vielen” ein Semitismus sei und soviel bedeute wie “alle”. Auf dieser Grundlage wurde – zumindest den Gläubigen gegenüber – die gesamte Argumentation um die Änderung der Wandlungsworte aufgebaut. Jetzt gibt Ratzinger einfach so nebenbei zu, dass dieses Fundament eigentlich nicht trägt.
Wichtig ist auch zu sehen, dass Ratzinger offenbar zugibt, dass die Wiedergabe von „pro multis“ mit „für alle“ keine reine Übersetzung sondern eine Interpretation war. In einer Interpretation drückt sich aber immer schon eine bestimmte Tendenz aus, d.h. es tritt die leitende Intention heraus. Diese Intention war offensichtlich, dem „pro multis“ eine andere Bedeutung zu geben als es eigentlich hat und damit den Gläubigen eine neue Lehre einzuflößen. Die Interpretation durch „für alle“ war nach den Worten Ratzingers aber sehr wohl begründet und bleibt es auch weiterhin. Die neue Lehre bleibt also dieselbe, auch wenn jetzt „für viele“ gesagt werden soll.
Nach einigen Überlegungen zum Verhältnis von wörtlicher Übersetzung und Interpretation fährt Ratzinger fort: “In diesem Zusammenhang ist vom Heiligen Stuhl entschieden worden, dass bei der neuen Übersetzung des Missale das Wort 'pro multis' als solches übersetzt (Hervorhebung original – Anm.) und nicht zugleich schon ausgelegt werden müsse. An die Stelle der interpretativen Auslegung 'für alle' muss die einfache Übertragung 'für viele' treten. Ich darf dabei darauf hinweisen, dass sowohl bei Matthäus wie bei Markus kein Artikel steht, also nicht 'für die vielen', sondern 'für viele'. Wenn diese Entscheidung von der grundsätzlichen Zuordnung von Übersetzung und Auslegung her, wie ich hoffe, durchaus verständlich ist, so bin ich mir doch bewusst, dass sie eine ungeheure Herausforderung an alle bedeutet, denen die Auslegung des Gotteswortes in der Kirche aufgetragen ist. Denn für den normalen Besucher des Gottesdienstes erscheint dies fast unvermeidlich als Bruch mitten im Zentrum des Heiligen. Sie werden fragen: Ist nun Christus nicht für alle gestorben? Hat die Kirche ihre Lehre verändert? Kann und darf sie das? Ist hier eine Reaktion am Werk, die das Erbe des Konzils zerstören will?”
Ratzinger sieht, dass die Wiedereinführung des “für viele” bei vielen Gläubigen auf Unverständnis stoßen werde. Die Gläubigen werden sich fragen, ob Christus jetzt doch nicht für alle gestorben sei. Das zeigt, dass den Gläubigen heute der Unterschied zwischen Christi universellem Heilswillen und der Zuwendung der Erlösungsgnaden in der hl. Messe nicht mehr klar ist. Also der Unterschied zwischen der Tatsache, dass Christus am Kreuz Seiner Intention nach für alle Menschen gestorben ist, und der kirchlichen Lehre, dass im Messopfer die Früchte des Kreuzesopfers nicht etwa automatisch der gesamten Menschheit zugewandt werden, sondern nur denen, die daran teilnehmen und den Bund mit Jesus bewusst und willentlich eingehen wollen. Dieser Unterschied wurde offenbar über Jahrzehnte nicht mehr erklärt. Man fragt sich, ob nicht unter der Hand stillschweigend absichtlich diese Kenntnis aus dem Bewusstsein der Gläubigen eliminiert wurde. Nebenbei bemerkt ist es ja auch seltsam, dass die Angst um das Unverständnis, auf das die Richtigstellung der Übersetzung des „pro multis“ bei den Gläubigen stoßen könnte, bei Ratzinger offenbar schwerer wiegt als die Tatsache, dass diese Worte Christi jahrzehntelang falsch übersetzt worden sind!
Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre, was die katholische Kirche immer geantwortet hat: Natürlich ist Christus Seiner grundsätzlichen Intention nach für alle Menschen gestorben in dem Sinne, dass Er durch seinen Tod allen Menschen die Erlösung ermöglicht hat. Allerdings stehen die Wandlungsworte im Zusammenhang der hl. Messe, bei der es um die Zuwendung der Erlösungsgnaden geht. Am leichtesten verständlich wird die Bedeutung des “für viele”, wenn wir es im Kontext sehen, in dem es steht. Es heißt: “Dies ist der Kelch meines Blutes, des neuen und ewigen Bundes – Geheimnis des Glaubens – das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.” Das Blut Christi im Kelch bei der hl. Messe ist also Bundesblut, der Kelch ein Bundeskelch. D.h. wir gehen hier in der hl. Messe im Blut Christi und durch Sein Blut einen Bund mit Gott ein. Bundesblut wird aber nur vergossen für die, die das Bundesangebot Gottes annehmen und ihrerseits den Bund bejahen und eingehen. Das sind aber nicht automatisch alle, sondern nur viele. Daher hat Jesus bei den Worten über den Kelch “für viele” gesagt, auch wenn es auf der anderen Seite richtig ist, dass Christus Seiner grundsätzlichen Intention nach für alle Menschen gestorben ist.
Zur Verdeutlichung seien hier Äußerungen zweier Kirchenväter zu dieser Thematik gebracht. Wir bringen hier einen Auszug aus der Zeitschrift „Einsicht“ (2. Jahrgang, Nr. 1, April 1972, S.29/30):
„Hl. Johannes Chrysostomus (344/45 – 407), Kirchenvater, Patriarch von Konstantinopel:
In seinem Hebräerbriefkommentar interpretiert er die Stelle Hebr. 9,28 mit folgenden Worten: ‚Einmal', sagt er (Paulus), 'ist Christus hingeopfert worden, um die Sünden vieler hinwegzunehmen'. Warum vieler und nicht aller? Weil nicht alle geglaubt haben. (...) Er ist zwar für alle gestorben, damit er alle errette, soweit es ihn betrifft: sein Tod (für alle) entsprach dem Untergange aller. Nicht aber nimmt er hinweg und tilgt die Sünden aller, weil sie selbst es nicht gewollt haben.' (Migne, PG 63, 129)
Hl. Ambrosius, Bischof von Mailand (ca. 339 – 397), einer der vier lat. Kirchenväter:
In seinem Kommentar zum Lukasevangelium schreibt Ambrosius anlässlich der Interpretation des Einsetzungsberichtes vom Blut: (...) 'Der Wert des Blutes ist der Wert der Passion des Herrn. Durch den Wert des Blutes also wird die Welt von Christus losgekauft; er ist nämlich gekommen, damit die Welt durch ihn gerettet werde. Er ist also gekommen, damit er die mit ihm durch die Taufe Gestorbenen und Bestatteten zur Gnade der Ewigkeit errette. Aber nicht allen ohne Unterschied wird er zum Orte des Begräbnisses, denn wenn auch der Begriff Welt alle einschließt, so errettet er dennoch nicht alle.'
Obwohl im Lukasevangelium beim Einsetzungsbericht vom Blut nicht vom 'für viele', sondern nur vom 'für euch' die Rede ist, kommt Ambrosius dennoch auf die de facto beschränkte Heilskraft und Heilswirksamkeit des Blutes Christi zu sprechen und schließt aus, dass Jesus Christus und seine Passion allen zum Heile werde. Durch das 'nicht alle' wird also eindeutig für die Wahrheit des 'nur für viele' plädiert!“
Interessant ist zu sehen – das sei hier schon vorausgreifend bemerkt – dass Ratzinger diese Unterscheidung zwischen universellem Heilswillen Christi und der Zuwendung der Erlösung im Messopfer nicht zu machen scheint. Was auf der einen Seite eigentlich nicht verwundert, weil nach moderner Theologie ja Jesus am Kreuz die Erlösung der gesamten Menschheit erwirkt hat (bereits wirksam – die sog. Allerlösungslehre) und daher der hl. Messe kein Gewicht als Opfer mehr beizumessen ist. Auf der anderen Seite aber müsste Joseph Ratzinger diese Unterscheidung gut genug kennen, weil er ja seine theologische Ausbildung zunächst in einem vorkonziliaren Priesterseminar (in Freising) erhalten hat.
Wie antwortet Ratzinger nun auf diese Frage? Nach einer Ermahnung an die Bischöfe, dass eine Wiedereinführung des “für viele” mit einer entsprechenden Erklärung von Seiten der Priester, mit einer Katechese, einhergehen müsse, führt er aus, wie eine solche Katechese aussehen könnte:
“Wenn Jesus für alle gestorben ist, warum hat er dann in den Abendmahlsworten 'für viele' gesagt? Und warum bleiben wir dann bei diesen Einsetzungsworten Jesu? Hier muss zunächst noch eingefügt werden, dass Jesus nach Matthäus und Markus 'für viele', nach Lukas und Paulus aber 'für euch' gesagt hat. Damit ist scheinbar der Kreis noch enger gezogen. Aber gerade von da aus kann man auch auf die Lösung zugehen. Die Jünger wissen, dass die Sendung Jesu über sie und ihren Kreis hinausreicht; dass er gekommen war, die verstreuten Kinder Gottes aus aller Welt zu sammeln (Joh 11, 52). Das 'für euch' macht die Sendung Jesu aber ganz konkret für die Anwesenden. Sie sind nicht irgendwelche anonyme Elemente einer riesigen Ganzheit, sondern jeder einzelne weiß, dass der Herr gerade für mich, für uns gestorben ist. 'Für euch' reicht in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein, ich bin ganz persönlich gemeint; wir, die hier Versammelten, sind als solche von Jesus gekannt und geliebt. So ist dieses 'für euch' nicht eine Verengung, sondern eine Konkretisierung, die für jede Eucharistie feiernde Gemeinde gilt, sie konkret mit der Liebe Jesu verbindet. (...) So wie wir vorhin gesehen haben, dass das 'für euch' der lukanisch-paulinischen Tradition nicht verengt, sondern konkretisiert, so können wir jetzt erkennen, dass die Dialektik 'viele' – 'alle' ihre eigene Bedeutung hat. 'Alle' bewegt sich auf der ontologischen Ebene – das Sein und Wirken Jesu umfasst die ganze Menschheit, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft. Aber faktisch, geschichtlich in der konkreten Gemeinschaft derer, die Eucharistie feiern, kommt er nur zu 'vielen'.”
Mit anderen Worten sagt Ratzinger: So wie Jesus, als er – nach Lukas und Paulus – im Abendmahlssaal nur “für euch” sagte, aber “gekommen war, die verstreuten Kinder Gottes aus aller Welt zu sammeln”, so wie das “für euch” keine Verengung, sondern eine Konkretisierung darstelle, so solle auch das “für viele” keine Einengung bedeuten, sondern besage einfach, dass in der konkreten Situation Jesus nur zu vielen komme, denen nämlich, die bei der jeweiligen Eucharistie, um bei Ratzingers Begriff zu bleiben, anwesend sind. So komme Jesus zwar faktisch in der Eucharistie nur zu vielen, Sein Sein und Wirken umfasse aber die ganze Menschheit!
Ratzinger führt dann noch ein zweites Argument an: “Aber nun noch einmal: Warum 'für viele'? Ist der Herr denn nicht für alle gestorben? Daß Jesus Christus als menschgewordener Sohn Gottes der Mensch für alle Menschen, der neue Adam ist, gehört zu den grundlegenden Gewißheiten unseres Glaubens. Ich möchte dafür nur an drei Schrifttexte erinnern: Gott hat seinen Sohn „für alle hingegeben“, formuliert Paulus im Römer-Brief (Röm 8, 32). „Einer ist für alle gestorben“, sagt er im zweiten Korinther-Brief über den Tod Jesu (2 Kor 5, 14). Jesus hat sich „als Lösegeld hingegeben für alle“, heißt es im ersten Timotheus-Brief (1 Tim 2, 6). Aber dann ist erst recht noch einmal zu fragen: Wenn dies so klar ist, warum steht dann im Eucharistischen Hochgebet 'für viele'? Nun, die Kirche hat diese Formulierung aus den Einsetzungs-Berichten des Neuen Testaments übernommen. Sie sagt so aus Respekt vor dem Wort Jesu, um ihm auch bis ins Wort hinein treu zu bleiben. Die Ehrfurcht vor dem Wort Jesu selbst ist der Grund für die Formulierung des Hochgebets. Aber dann fragen wir: Warum hat wohl Jesus selbst es so gesagt? Der eigentliche Grund besteht darin, daß Jesus sich damit als den Gottesknecht von Jes 53 zu erkennen gab, sich als die Gestalt auswies, auf die das Prophetenwort wartete. Ehrfurcht der Kirche vor dem Wort Jesu, Treue Jesu zum Wort der 'Schrift', diese doppelte Treue ist der konkrete Grund für die Formulierung 'für viele'. In diese Kette ehrfürchtiger Treue reihen wir uns mit der wörtlichen Übersetzung der Schriftworte ein.”
Die Zitate, die Ratzinger anfangs bringt, sprechen allesamt lediglich von dem allgemeinen Heilswillen Jesu, der sich auf alle Menschen bezieht. Aber da Ratzinger wie gesagt den Unterschied zwischen allgemeinem Heilswillen und der konkreten Zuwendung der Erlösungsgnaden in der hl. Messe nicht aufzeigt, ist für ihn nur die Treue zum Wort Jesu - und eben nicht auch dessen überliefertes theologisches Verständnis - “der konkrete Grund für die Formulierung 'für viele'”. Jesus hat laut Ratzinger “für viele” nur aus Treue zur Schrift (und eben nicht auch aus theologischen Gründen) gesagt. Und so soll nun auch im NOM aus Treue zum Wort Jesu “für viele” gesagt werden.
Auch hier soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass es höchst sinnvoll wäre zu fragen, warum eben an allen betreffenden Stellen des Neuen Testamentes ausgerechnet „für viele“ steht, und nicht „für alle“, welche grundlegenden theologischen Schlussfolgerungen für die Messopfertheologie sich daraus ergeben! Aber daran scheint ja Ratzinger überhaupt nicht interessiert zu sein. Obwohl er nun aus reiner Buchstabentreue für die Übersetzung „für viele“ eintritt, teilt er dennoch die falsche und häretische Theologie, welche hinter der Interpretation „für alle“ steht! Dadurch ist eigentlich nichts gewonnen.
Zu der Stelle bei Isaias (53,11), auf die sich Ratzinger bezieht, nochmal ein Auszug aus „Einsicht“ (2. Jahrgang, Nr. 1, April 1972, S. 29):
„Hl. Hieronymus (342/7 – 420), Kirchenvater:
a) Isaiaskommentar zu Is. 53,11 ('Heraus aus mühseligem Leben erschaut er (mein Knecht) das Licht, sättigt die vielen durch seine Erkenntnis; die vielen befreit mein Knecht von der Schuld, unsere Frevel lädt er auf sich.'): '...und der Diener des Vaters, der die Gestalt eines Knechtes angenommen und dem Willen des Herrn gedient hatte, wird von der gesamten Erde viele, die glauben, rechtfertigen.' (...)
Dieses Zeugnis ist höchst bedeutsam, weil Hieronymus den hebräischen Urtext, der das umstrittene 'rabim' enthält, genau kannte, denn er hat ja das gesamte AT direkt aus dem Hebräischen ins Lateinische übersetzt; diese Übersetzung nun überträgt das hebr. 'rabim' mit 'multi'; wie Hieronymus aber dieses 'multi' verstanden hat, geht aus seiner Interpretation unzweideutig hervor: nämlich einschränkend im Sinne von: 'viele, die glauben'. Ein treffendes Zeugnis gegen das Verfahren des J. Jeremias, von einer unterschobenen universalistischen Bedeutung des 'rabim' obiger Stelle zu schließen, auch das von Jesus bei der Einsetzung gebrauchte 'rabim' (bzw. dessen aramäische Entsprechung) habe eine alle einschließende Bedeutung, weshalb im 'peri pollon', der griechischen Übersetzung dieses 'rabim' im NT, ein Semitismus vorliege und dies deshalb auch 'alle' bedeuten müsse.“
Abschließend sei noch folgendes bemerkt. Nach katholischer Lehre wird ein Sakrament ungültig, wenn die Form (die Worte, die der Sakramentenspender spricht) eine wesentliche Änderung erfahren, d.h. eine Änderung, die ihnen einen anderen Sinn gibt. Beide Formulierungen „für viele“ und „für alle“ stellen theologisch gesehen ganz verschiedene Welten dar, so dass es verständlich wird, warum nach genuiner katholischer Lehre allein schon durch die Benutzung von „für alle“ in den Wandlungsworten keine gültige Konsekration zustande kommen kann.
Dass es sich bei dem „für viele“ und „für alle“ auch in den Augen der Modernisten um eine wesentliche Stelle handelt, dass für sie ihre ganze moderne Theologie mit diesem Begriff steht und fällt und dass es keine Wortklauberei ist, wenn man an dem einen Wort „viele“ festhält, verdeutlichen auch die Reaktionen der Gläubigen und Priester, die Ratzinger befürchtet. Warum setzen sie sich so für das „für alle“ ein, wenn nicht, weil sie wissen, dass an dem „für alle“ die ganze moderne Theologie hängt?
Sonst wäre es ja jetzt kein solches Problem, zum “für viele” zurückzukehren. Daher sieht ja Ratzinger auch vor, dass die Wiedereinführung des „für viele“ von einer Katechese begleitet wird, in der erklärt werden soll, dass inhaltlich zwischen „für viele“ und „für alle“ eigentlich kein Unterschied bestehe. Allerdings blendet er dabei aus, dass das „für alle (zur Vergebung der Sünden)“ nach überlieferter Lehre der Kirche die Schlussfolgerung nach sich zieht, dass die Erlösungsgnaden Christi schon tatsächlich allen Menschen wirksam zugewandt worden sind.
So konnte auch z.B. Kardinal Schönborn, der als Erzbischof von Wien ebenfalls diesen Brief erhalten hat, sagen: “Weiters sagt der Papst, dass dieses Wort Jesu unmittelbar für die vielen gilt, die gerade die heilige Messe feiern. Diese 'viele' trifft eine besondere Verantwortung für alle, denn Jesus Christus ist für alle gestorben und hat damit die Erlösung der gesamten Menschheit erwirkt. Diese frohe Botschaft in der rechten Weise zu feiern und auszulegen bleibt eine wichtige Aufgabe für die Bischöfe und für alle, die den Glauben verkündigen.”1
Man kann die in der Überschrift gestellte Frage also folgendermaßen beantworten: Ratzinger tritt zwar tatsächlich für das “für viele” ein, versteht es aber im Sinne der modernistischen Theologie als “für alle”. Von einer echten und wirklichen Rückkehr zur Tradition kann daher eigentlich keine Rede sein – es geht lediglich um gewisse Nuancen des Modernismus!

P. Johannes Heyne

1 http://www.kath.net/detail.php?id=36259 (Artikel ersch. am 25.04.2012)

 

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